JazzFest.Wien Festival History

JazzFest.Wien 2013

Der nachtragende Chronist

Bonnie Raitt | Charles Bradley
2.7.2013 Wiener Staatsoper

„Bist du narrisch?“, fragt ein Mann seine Begleiterin, als er nach dem Doppelkonzert von Charles Bradley und Bonnie Raitt fröhlich dem Ausgang der Staatsoper zustrebt. „Das war etwas, Mausi!“ Das war sogar sehr gut!

Nach einigen Tagen Jazz Fest Wien hat man sich eingestimmt. Bobby McFerrin, Paolo Conte, Helge Schneider. Und dann der Dreier auf dem Gelände der Fernwärme mit österreichischem Blues, amerikanischen Soul und britischen Karibikanklängen. Beim Ausgang aus dem Fernwärme Gelände gelangte der Chronist noch in den Besitz von drei kleinen Pixi-Kinderbüchern. Wie haben wir sie als Kinder geliebt, diese kleine Bücher. Für die Fernwärme gibt es drei Sonderausgaben mit beziehungsreichen Titeln wie „Was passiert in der Spittelau?“ (Wie wissen es jetzt: aufregende Musik!) Die zwei anderen Büchlein heißen „Was ist Fernkälte?“ und „Was die Sonne nicht alles kann?“ – und die Antwort kann nur lauten: Fernkälte ist das Gegenteil von Nahwärme, diesem Produkt von Sonnenschein, und Sonnenschein und Wärme haben offensichtlich etwas mit Musik zu tun. Wem ist noch nicht aufgefallen, dass mit jedem Tag, an dem das Jazz Fest andauert, die Außentemperaturen steigen? Das muss man in der Chronologie der Ereignisse einmal nachtragen.

Einen weiteren Hitzschub gab es gestern in der Staatsoper: Charles Bradley, der afroamerikanische Soulsänger, der durch die Gnade des späten Alters als 63jährigen noch einen Berufswechsel vom Koch zum Soulisten vornehmen konnte, eröffnete den Abend. Allerdings nicht ohne dass seine bestens eingespielte, junge Begleitband vorher mit einigen rasanten Instrumentals dem Publikum eingeheizt hatte. So wurde der alte Hit der Lovin’ Spoonful „Summer in the City“ noch einmal aufgekocht, ganz in der Manier besten Südstaatensouls. Booker T. Jones und die Memphis Horns ließen grüßen!

Dann erschien Bradley im vollem Glitzerornat und mit einer Stimme, die an die großen Alten des Soul, an Otis Redding, James Brown oder Otis Clay erinnerte. Gewissermaßen ist er ein Chronist des Soul, trägt mit seiner Stimme und seinen Themen das ganze Erbe des klassischen Soul in die Gegenwart mit hinein.

Noch vor zwei Jahren trat er in Wien beim Jazz Fest auf dem Rathausvorplatz bei einem Gratiskonzert auf, heuer hat er es in die Oper geschafft. Was für ein Weg! Bradley öffnete sein Herz, ließ den Sonnenschein heraus und die Herzen der Männer und Frauen im Publikum flogen ihm zu. Liebe und die daraus entstehenden Probleme, das waren seine Themen an diesem Abend. Schrei, kreisch, er war ein „Victim of love“, beschwor immer wieder die Liebe, „Luurve“. Er fiel auf die Knie, wirbelt mit dem Mikrofon, ganz große Show, trug es wie ein Kreuz. Das Kreuz (mit) der Liebe, er trug es für uns alle.

Klassische Soul-Tanzeinlagen gab es auch, aber, nun gut, ein zweiter Nurjenew wird der alte Herr nicht mehr werden. Aber er war mit dem Herzen dabei, und das war spürbar. Und als er zum Abschied das Bad in der Menge suchte, bekam er mindestens soviel Liebe zurück, wie er gegeben hatte. Nach dem Konzert war er im Backstage-Bereich jedenfalls in bester, glücklicher Stimmung zu erleben.

Jetzt fehlt dem Mann eigentlich nur noch ein richtiger Hit. Stattdessen aber gab das traditionelle Geschenk der Wiener Staatsoper und des Jazz Fest Wien: verdienstvolle Musiker erhalten bekanntlich ein mit Schweiß und Probenblut getränktes Stück des Bühnenbodens. Alle Anwesenden sind sich einig: wenn ein Musiker diesem Stück Holz einen Ehrenplatz einräumen wird, dann Charles Bradley!

Noch im Moment der Preisverleihung wehte eine Spur Eiseskälte durch die Räume. Ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen, durchschritt Bonnie Raitt den Flur mit forschem Schritt und umarmte Bradley. Gratulation! Minuten später stand sie auch schon auf der Bühne. Das Publikum erwies sich als äußerst fachkundig, beklatsche Titel schon nach wenigen Sekunden und erfreute sich an den humorigen Ansagen der großen alten Dame der mit Blueslicks und Country-Anleihen verstärkten amerikanischen Rootsmusic.

Raitt hatte an diesem Abend leichtes Spiel, sie und ihre Band spielten anscheinend vor einem Publikum, das sie kultisch verehrt. Der Rotschopf war begeistert, sowohl von den Beifallsbekundungen als auch von der Architektur der Oper. „Es ist so hübsch hier, Gage bekomme ich nur für zwei Stunden, aber ich glaube, ich würde auch umsonst länger spielen.“ Das machte sie dann zwar doch nicht, aber es schadete halt nicht, wenn man sich gut mit dem Publikum versteht.

Einige junge Frauen im Saal tanzten locker mit, Raitt wechselte von der E-Gitarre zur Akustikklampfe, dann gar zum Klavier, während der zweite Gitarrist alle Keith-Richards-Moves demonstrierte. Gegen Schluss kam immer mehr Blues ins Spiel und als sie gar zu einem Chuck-Berry-artigen Rocker aufspielen ließ, tobte der Saal. Wenn es einen Wunsch an diesem Abend gab, dann hätte er gelautet: bitte mehr vom guten alten Stoff! Mehr zum Narrischwerden!

So fragt sich der Chronist eigentlich nur, warum es die guten Sachen eigentlich erst zum Schluss gibt. Schon Bryan Ferry hatte mit Soul-Schmankerln bis zum Ende des Konzert gewartet, und da es offenbar so ist, dass mit Blues und Soul das Publikum immer noch zu begeistern ist, dann muss die Frage nachgetragen werden: warum nicht gleich so?
Auf alle Fälle ist Frau Raitt nach dem Konzert ebenfalls in bester Stimmung. Locker und gelöst chattet sie mit Besuchern und Musikern. Geht doch!

Mal schauen, was der letzte noch lebende Star aus der goldenen Ära des Soul, Bobby Womack, bei seinem Konzert in der Wiener Oper am Mittwoch, dem 3. Juli, zur Beantwortung aller möglichen Fragen beitragen wird.(Fortsetzung folgt)
Harald Justin

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